Trauer, Verdrängung, Schuld, Verrat

Der Grund - Anne von Canal

Wie oft kann ein Mensch von vorn beginnen?

"Der Grund" erzählt teils in Tagebuchform, teils in Rückblenden die zutiefst traurige Geschichte des zunächst ziemlich unsympatischen Lorenzo/Lawrence/Laurits, eines früheren Arztes, der als Kreuzfahrtpianist arbeitet. Er hat eine distanzierte bis zynische Sicht auf die Welt und die Menschen, und als langsam Stück für Stück die Vergangenheit aufgerollt wird, versteht man, warum er so geworden ist, wie er ist. 

 

Er wurde in seinem Leben immer wieder gebeutelt: Er hatte eine schwierige Kindheit mit übermächtigem Vater und alkoholkranker Mutter. Sein Traum, Konzertpianist zu werden, scheitert. Gemäß seinem Versprechen an seinen Vater wird er Arzt, findet die große Liebe und erfährt, dass sein Leben auf Sand gebaut ist. Immer wieder schlägt das Leben zu, immer wieder fängt er von vorne an. Das Buch ist bei aller Charakter-Entwicklung kein Coming-of-Age-Roman, sondern eine sehr erwachsene Tragödie.

 

Vieles ist an Musik aufgehängt, und ich bekam Lust, diese Stücke, die für den Protagonisten bedeutsam sind, anzuhören.

 

Von Canal schreibt langsam und dicht. Der leicht distanzierte Erzählstil und die wechselnden Blickwinkel schaffen weniger Distanz zum Protagonisten als eine Perspektive, aus der sich dem Leser vieles erschließt, was der Protagonist erst viel später versteht. Dennoch werden die Motive Trauer, Verdrängung, Verrat und Schuld derart intensiv bearbeitet, dass ich emotional völlig gefangen war.

 

Zutiefst traurig, sehr lesenswert.